"Uns geht es doch eigentlich sehr gut. Sei doch mal dankbar. Schau nicht nur auf das Negative!“

Puuuuh. Guter Rat, aber irgendwie auch richtig doof. Je nach Situation macht der Tipp ungefähr so viel Lust wie die Anweisung meiner Mutter damals, mich bei der verdrießlichen Tante Hedwig für die Geburtstagsgaben zu bedanken.

Generell ist das mit dem „Du sollst“ ja nicht so leicht. Gebote und Tugenden wecken gerne unseren inneren Revoluzzer auf. Diese alte Teenager-Energie, die direkt die Ohren auf Durchzug schaltet, selbst wenn der Rat ein guter ist.

Dankbarkeit ist mehr als Kopfsache

Bei mir funktioniert die Tugendnummer nur, wenn es keine Kopfsache mehr ist. Im Fall von Dankbarkeit zum Beispiel, wenn ich sie auch wirklich spüre, irgendwo eine Regung habe im Körper.

Im Fall von Tante Hedwig, wenn mir also tatsächlich das Herz aufgeht bei ihrem Geschenk, und ich aus dieser Haltung heraus ein „Danke“ sage.

Alles andere ist auch nett und unbedingt hilfreich für die Sozialhygiene, aber es fühlt sich doch geheuchelt an, oder?

Herztasse im Schnee

Also doch: Dankbarkeit üben

Studien aus der positiven Psychologie belegen allerdings, dass dankbare Menschen und solche, die bewusst Dankbarkeit praktizieren, glücklicher sind und eine bessere Lebensqualität haben.

Eine Studie aus Hongkong ließ 2015 Krankenhauspersonal, das unter chronischem Stress im Job litt, kurze Tagebucheinträge vonehmen – in einer Gruppe mit Fokus auf Erfreuliches in einer anderen mit Fokus auf Probleme und Ärger.

Die Gruppe mit dem Dankbarkeitstagebuch berichtete am Ende von weniger Stress und geringeren Symptomen von Depression. Resümme: Eine bewusste Praxis von Dankbarkeit könnte sich also durchaus positiv auswirken auf das Allgemeinbefinden von uns Pandemie-geschädigten Noch-nicht-so-100-Prozent-Dankbaren. (Mehr Links zu Studien am Ende dieses Artikels!)

„Fake it until you make it” also. Ich übersetze das Englische mal mit: „Mach es halbherzig, bis Du es mit ganzem Herzen machst.“ Jeden Abend 3 Dinge überlegen, für die ich dankbar bin an diesem Tag, lautet die Empfehlung. Und das unbedingt über einen längeren Zeitraum, am besten mit 3 Wochen anfangen. Denn so lange dauert es, bis unser System eine neue Gewohnheit integriert hat.

(Meine Kollegin Kirsten Klahold hat kürzlich einen Blogbeitrag mit mehr Details dazu geschrieben und bietet auch eine kostenlose Vorlage für ein Dankbarkeitstagebuch an für alle, die es etwas aufgehübscht mögen.)

Dankbarkeit als Körperhaltung

Dankbarkeit kann also wie ein Training für eine innere Haltung beginnen. In voller Entfaltung ist sie vor allem ein Gefühl, verbunden mit einer körperlichen Empfindung. Die gute Nachricht für mich als Yoga-Praktizierende: Weil alles mit allem zusammenhängt, kann mich mein Körper bei diesem Projekt gut unterstützen.

Jede menschliche Regung findet ihren Ausdruck in Gestik, Mimik und Haltung. Umgekehrt kann die äußere Haltung die innere beeinflussen. Darin liegt ein Teil der Magie von Yoga.

Vorbeugen können zu Verbeugungen werden, die Dehnung des Gewebes zu einer offenen Haltung ohne Anspannung und Angst. Beide Bewegungen können körperliche Entsprechungen sein von Dankbarkeit und Wertschätzung.

Simona Mona im Namaste

Yogahaltungen für mehr Wertschätzung

Der allseits bekannte Sonnengruß Surya Namaskar verbindet diese Erkenntnis zu einer fließenden Reihe von Haltungen, die als Begrüßung und Verbeugung vor dem Leben selbst praktiziert werden können. Symbolisch für die Lebensenergie, die uns beseelt und belebt, steht dabei die Sonne (Surya), ohne die auf dem Planeten Erde kein Leben möglich wäre.

Von allen Vorbeugen repräsentiert am besten Balasana, die auf der Erde dahinschmelzende „Kindeshaltung“, die unvoreingenommene Hingabe an das, was ist – auch genannt das Leben!

Namaste ist die einfachste und sicher bekannteste Handgeste aus dem Yoga, die Wertschätzung ausdrückt. Wörtlich heißt es „Verbeugung vor Dir“ und wird gerne mit der Ehrung des göttlichen Funken im Gegenüber übersetzt.

Die aneinandergelegten Hände signalisieren Friedfertigkeit, die Haltung auf Herzhöhe das Wohlwollen und die Verbindung zum eigenen inneren Kern.

Wunderwaffe Aufmerksamkeit

Eine tiefere und nachhaltigere Wirkung haben all diese Haltungen allerdings nur, wenn wir „ganz bei der Sache“ sind. Denn wo die Aufmerksamkeit hingeht, fließt auch unsere Lebensenergie und unsere Intention (Absicht) hin.

Namaste macht also gar nix, wenn ich gleichzeitig die Äußerlichkeiten meines Gegenübers bewerte. Und der Sonnengruß bleibt Gymnastik, wenn ich dabei im Kopf Einkaufslisten erstelle.

Etwa wie ein dahingemurmeltes „Ich liebe dich“ beim Abschied keine wirkliche Kraft hat.

Herz im Holzstapel

Kleine Freuden mit großer Wirkung

Andersherum macht jede Yogapraxis mit klarer Absicht und Aufmerksamkeit den Körper zu einem fantastischen Werkzeug für alles, was gut und stimmig ist.

Tatsächlich sind Körperwahrnehmung und Achtsamkeit, wie wir sie in vielen Yogastilen praktizieren, echte Türöffner für die Wertschätzung von Details.

Yoga kann Freude bringen an der feinen Öffnung und zunehmenden Beweglichkeit des Körpers oder Wertschätzung für die Stabilität und Nahrung, die der Atem uns spendet. In den stillen Momenten können Empfindungen von Erdung, Aufrichtung, Balance oder innerem Frieden das Gefühl von Angekommensein und Dankbarkeit nähren.

Dankbarkeit durch und für die Yoga-Praxis

Und so schließt sich der Kreis für mich: In der Praxis auf der Matte finde ich die Wertschätzung für das Kleine und Feine und dadurch auch Dankbarkeit für das Leben als Ganzes.

Ein Gedicht des Engländers William Blake bringt diese Verbindung der kleinen Details mit dem großen Ganzen ganz zauberhaft zum Ausdruck:

„Um die Welt in einem Sandkorn zu sehn
und den Himmel in einer wilden Blume,
halte die Unendlichkeit auf deiner flachen Hand
und die Stunde rückt in die Ewigkeit.“

Yoga, Meditation und alles andere, was einen guten Rahmen bildet für konzentrierte Aufmerksamkeit und Intention, laden diese atemlosen Momente in unser Leben ein.

Das sind dann die Momente, in denen Dankbarkeit keine Kopfsache mehr ist, und die Wertschätzung für das Leben auf natürliche Weise aus uns herausfließt.

Die Welt in einem Sandkorn
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